Am 8. Mai lud der Bezirksverband Lichtenberg ein zu einem kulturhistorischen Spaziergang – gemeinsam mit dem Bezirksverband Charlottenburg-Wilmersdorf, an dem mehr als 20 Personen teilnahmen.
Heribert Eisenhardt führte uns über Stationen der deutschen Geschichte im Stadtbild Charlottenburgs. Wir trafen uns am Steinplatz an der Hardenbergstraße und gedachten der Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus, denen vor Ort zwei Denkmäler gewidmet sind, an denen der Bezirksvorsitzende von Charlottenburg Wilmersdorf, Hugh Bronson, und der Bezirkssprecher von Lichtenberg, Falk Rodig, Blumen niederlegten.
In Vorträgen und Gespräche reflektierten wir über das Gedenken an den 8. Mai und die Gedenktraditionen in der DDR und der BRD, insbesondere über den „Befreiungsmythos“ in der DDR, der in den achtziger Jahren bei der Ablösung der Erlebnisgeneration durch die 68er-Generation in der BRD übernommen wurde.
Wir gingen die Cramerstraße hinunter und gedachten der Politikerin Anna von Gierke (Deutschnationale Volkspartei) an ihrem ehemaligen Wohnhaus. Von Heribert Eisenhardt erfuhren viel über die interessante Politikerin, (die mit einem Referenten der AfD-Fraktion im AGH verwandt ist). Wir tauschten uns dabei aus über diese rechte Parteien der Weimarer Republik, ihre sozialen und geistesgeschichtlichen Hintergründe und internen Konflikte.
Am Savignyplatz angekommen hörten wir über Augenzeugenberichte der Bombardierungen Charlottenburgs, die schreckliches Leid brachten (die Alliierten ermordeten in 363 Luftangriffen über 50.000 Berliner), ebenso über die Kämpfe in Charlottenburg und den Ausbruch der Reste der Panzerdivision Müncheberg über die Kantstraße nach Spandau bis zur Elbe (trotz der Kapitulation Berlins am 2. Mai 1945). In der Schlacht um Berlin sollen 170.000 Soldaten gefallen und 500.000 verwundet worden sein, ohne dass diese gezählt werden konnten.
Zudem hörten wir von Walter Kilian (KPD), den ersten Bürgermeister Charlottenburgs im Mai 1945, der noch im selben Monat wieder des Amtes enthoben wurde, weil er sich über die Plünderungen der sowjetischen Soldaten beschwerte.
Über Georgi Dimitroff erfuhren wir an dessen ehemaligen Charlottenburger Wohnhaus mehr: seinen Werdegang als Gewerkschafter und Abgeordneter in Bulgarien hin zu seiner Rolle im dortigen kommunistischen Aufstand 1923 und seine Verbindung zur KOMINTERN. Die KOMINTERN war eine von Moskau gesteuerte Organisation, die als Schritt zur Weltrevolution den „Deutschen Oktober“ 1923 plante – eine kommunistische Revolution in Mitteldeutschland, die jedoch an der Weigerung der delegierten sächsischen Arbeiterführer in Chemnitz scheiterte. Lediglich unter Leitung von Ernst Thälmann kam es in Hamburg zum Aufstand. Wir erfuhren mehr über den Reichstagsbrandprozess 1934, in dem die bulgarischen Mitglieder der KOMINTERN in Deutschland der Planung eines Aufstands angeklagt und freigesprochen wurden. Der Prozess erzielte internationale Aufmerksamkeit, die wesentlich zur Popularität Dimitroffs beitrug.
Ebenso hörten wir von der „Dimitroff-These“, welche die „Sozialfaschismusthese“ als Erklärung des Faschismus aus kommunistischer Sicht ablöste. Die Sozialfaschismusthese von Sinowjew lautete:
„Der Faschismus ist eine Kampforganisation der Bourgeoisie, die sich auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokratie stützt. Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus. […] Diese Organisationen schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Das sind keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder.“
Hingegen beschrieb die Dimitroff-These den Faschismus als „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“
Schließlich erfuhren wir mehr über die Rolle Dimitroffs beim „Großen Terror“ 1936 bis 1938 unter Jeschow, Dimitroffs Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt sowie seine Führungsfunktion bei der Errichtung der Volksgerichte 1944 in Bulgarien, mittels derer die bulgarische Elite zum Tode verurteilt wurde.
Weitere Stationen unseres Sparziergangs waren die Synagoge des liberalen Judentums in Charlottenburg in der Pestalozzistr. 14 (in der Reichskristallnacht in Brand gesteckt), das ehemalige Jugend- und Kinderheim Anna von Gierkes in der Goethestr. 22, sowie die Krumme Straße – der Ort, an dem der linke Student Benno Ohnesorg vom Westberliner Polizisten und Mitarbeiter des Ministeriums der Staatssicherheit der DDR Karl-Heinz Kurras erschossen wurde, diese Tat hatte viele Studenten radikalisiert, die in der Folge ihr Leben verbauten.
Interessant war auch der Vortrag von Heribert Eisenhardt über die „Kommune 1“, die große kulturelle Wirkungsmacht entfaltete. Im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) gab es einen ersten Kommune-Arbeitskreis, der die Idee verfolgte, der Faschismus entstehe aus der Kleinfamilie; sie sei die kleinste Zelle des Staates, aus deren unterdrückerischem Charakter sich alle Institutionen ableiteten. Mann und Frau lebten darin in Abhängigkeit voneinander, sodass sich keiner von beiden frei zum Menschen entwickeln könne. Deshalb müsse die Kleinfamilie zerschlagen werden.
Im Eckhaus Stuttgarter Platz/Kaiser-Friedrich-Straße wohnte die „Kommune 1“ zwar nur einige Monate, allerdings auf der dortigen Treppe ein bekanntes Bild.
Nach diesem interessanten Programm ließen die Teilnehmer es sich in einem Restaurant in geselliger Runde wohlergehen.