Ein sehr eindrucksvoller kulturhistorischer Spaziergang führte uns zurück zu den Tagen im Juni 1953. Am dem heißesten Tages des Jahres, dem 18. Juni 2022, liefen acht Teilnehmer aus fünf Bezirken durch Karlshorst und Friedrichsfelde, geleitet von Heribert Eisenhardt in der glühenden Hitze des Samstagsnachmittages zu Schlüsselorten der Deutschen Geschichte. Der 17. Juni war für jeden von uns ein wichtiges Thema, über das wir mehr erfahren wollten.
Wir trafen uns am „Campus Treskowallee“ der HTW Berlin (Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin). Das 1914 als Realgymnasium und Lyzeum errichtete Gebäude nutzte ab 1945 die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD). Hier war der Sitz des „Stellvertreter des Obersten Chefs für Industrie“. Hier organisierten die sowjetischen Besatzer die systematische Ausplünderung unseres Landes. 1950 zog die neugegründete „Hochschule für Planökonomie“ ein, die spätere „Hochschule für Ökonomie Bruno Leuschner“. Sie war die wichtigste wirtschaftswissenschaftliche Lehr- und Forschungseinrichtung der DDR. Erste Rektorin war die damals 47-jährige Kommunistin Eva Altmann, die bis 1956 die Leitung ausübte. Hier wurden die theoretischen Grundlagen des planwirtschaftlichen Systems erforscht und vermittelt, um die wirtschaftspolitischen Gedanken von Marx und Lenin in die Realität umzusetzen. Ab 1952, nach der 2. Parteikonferenz der SED, enteigneten und kollektivierten die Kommunisten in großem Stile. Die an der „Hochschule für Planökonomie“ ausgebildeten Ökonomen führten nach den Enteignungen diese Betriebe im planwirtschaftlichen System weiter.
Wir gingen weiter zum Römerweg 40. Dort nahmen wir den Faden auf zu den Gründen des Ausbruchs des Volksaufstands. Die Enteignungen und Kollektivierungen 1952 in der DDR führten zu einem erheblichen Einbruch der Wirtschaftsleistung in einer ohnehin durch Kriegszerstörung, Demontagen und Reparationen sehr schwierigen Lage. Im März 1953 starb Stalin. Seine Nachfolger Malenkow, Berija und Molotow hatten sogar erwogen, den „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR abzumildern, denn wegen der sich rapide verschlechternden Wirtschaftsleistung konnten die Besatzer weniger aus der DDR abschöpfen. Dies gefährdete das kommunistische System im Ganzen. Ulbricht musste den Weisungen aus Moskau nachgeben und verkündete am 11. Juni in der Staatszeitung „Neues Deutschland“ einen Kurswechsel – allerdings ohne die Normerhöhungen (ein Euphemismus für Lohnkürzung) zurückzunehmen. Am Tag darauf kam es in mehr als 300 ländlichen Gemeinden zu spontanen Aufständen, bei denen SED-Funktionäre abgesetzt und verprügelt wurden. Am 15. Juni stellten die Arbeiter der Regierung ein Ultimatum mit Streikandrohung; in sämtlichen Städten der DDR kam es zu Streiks. Die Aufständischen erlebten die Tage als euphorische Phase voller Glück und Hoffnung. Für die Kommunisten waren diese Ereignisse ein lange nachwirkender Schock, denn ihr Selbstbild als Klassenkämpfer für die Arbeiterklasse war in Frage gestellt. Die DDR-Führung flüchtete „zu den Russen“ nach Karlshorst. Dass sich nach 7 Jahren stalinistischen Terrors in der DDR organisierter Widerstand zeigen konnte, überraschte alle Beteiligten.
Wir liefen weiter zur Waldowalle 15, dem Wohnhaus und Atelier von Johannes Hegenbarth, des Schöpfers der „Digedag“. Als Fans in Kindertagen war dies für uns eine interessante Anlaufstelle. 1955 hatte Johannes Hegenbarth die Idee zu einer Bilderzeitschrift für Kinder und stellte diese dem Verlag Junge Welt vor, seine Zeitschrift Mosaik kam noch im selben Jahr auf den Markt. Dies geschah, obwohl die „Digedag“ ein Comic-Format war und Comics als amerikanisch verpönt waren. Die DDR-Führung reagierte auf den 17. Juni mit größerer Nachgiebigkeit im kulturellen Bereich. Das Haus diente zuvor Wachhaus des nördlichen Schrankenzuganges des Sperrgebiets Karlshorst. Die Besatzer hatten 1945 ganz Karlshorst nördlich der S-Bahnlinie beschlagnahmt und sämtliche Bewohner vertrieben, die innerhalb von 2 Stunden ihre Wohnungen verlassen mussten.
Weiter gingen wir zum ehemaligen St. Antonius Krankenhaus, dass 1953 eine NKWD-Zentrale war. Hierhin wurde auch Siegfried Berger verschleppt. In den Kellerräumen wurden Bürger oft monatelang gefangen gehalten, gefoltert und getötet. Von 1964–1990 war das Gebäude der Sitz des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft der DDR.
Anschließend besuchten wie die Kirche „Zur Frohen Botschaft“ an der Weseler Str. 5. Die sowjetische Armee nutzte die Kirche der ev. Paul-Gerhardt-Gemeinde zehn Jahre lang als Speicher und Pferdestall.
Dann nahmen wir die Straßenbahn nach Friedrichsfelde Ost und liefen durch den Busch nördlich der S-Bahn zum Magerviehhof. Der 1903 errichtete „Magerviehhof Friedrichsfelde“ war das größte Handelszentrum für Tiere, dass je in Deutschland gebaut wurde. Es ist über 1 km lang und reichte bis zur heutigen Allee der Kosmonauten. Der Lebensstandard im Kaiserreich war wesentlich höher als zur Zeit der Weimarer Republik. In den 20er Jahren konnten sich die Berliner kein Fleisch mehr leisten. Das Handelszentrum für Tiere wurde umgenutzt als Logistikzentrum. Im Kriege waren Wehrmacht und Luftwaffe Hauptmieter, dann nutzte es die Sowjetarmee. Nach dem 17. Juni 1953 sperrten die Besatzer über 1000 Bürger in den Ställen des Magerviehhofs ein und terrorisierten sie mit Gulag-Methoden. Von hier traten die Gefangenen ihren Weg durch die Lager in der Sowjetunion an.
Unweit davon befindet sich in der Reiler Str. 4 das ehemalige Wohnhaus von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, in dem er auch seine Kanzlei betrieb. Falk Rodig trug an dieser Stelle über die Biografie dieser Schlüsselfigur der deutschen Geschichte vor.
Als 20jähriger hatte Wolfgang Vogel in der SBZ von 1946 bis 1949 Rechtswissenschaften studiert. Noch als Referendar wechselte er mit seinem Ausbilder vom Amtsgericht Waldheim (Sachsen) ins Ministerium der Justiz der DDR in der Dorotheenstr. 93. Im Zuge der Säuberungen nach dem 17. Juni 1953 wurde auch er entlassen, konnte aber durch Förderung bald als Anwalt zugelassen werden – im Rechtsanwaltskollegium von Groß-Berlin. In der geteilten Stadt erhielt er auch eine Zulassung vor dem Landgericht in Westberlin. Dort vertrat er die DDR als Rechtsanwalt in Zivilsachen. Aus dieser Position heraus war er beteiligt am Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke des über der Sowjetunion abgeschossenen US-Spionagepilot Francis Gary Powers. Offensichtlich wurde, dass Wolfgang Vogel das Vertrauen von Moskau und Washington genoss und dass er im Kalten Krieg einen Gesprächskanal zwischen den beiden Besatzungsmächten herstellen konnte. Diese Stellung erhob ihn über den Machtbereich der DDR-Behörden sowie der westdeutschen und westberliner Behörden. Sie eröffnete ihm unglaubliche Möglichkeiten. Er war an den Freikäufen von DDR-Bürgern beteiligt, bei denen insgesamt über 1,5 Mrd. DM von der BRD an die DDR gezahlt worden sein sollen. Über 200.000 Ausreiseverfahren von DDR-Bürgern soll er geführt haben. 1984 und 1989 verhandelte er, um DDR-Bürger zum Verlassen der Ständigen Vertretung der BRD zu bewegen – ein fallender Dominostein zum Ende der deutschen Teilung.
1998 vom BGH freigesprochen starb er 2008 im bayrischen Schliersee.